Sunday, March 30, 2014

Nacht




Er erwachte mit einem leisen Aufschrei und wusste nicht wo er war.

Jiroh fasste sich an den Kopf und massierte seine Schläfe, um den pochenden Kopfschmerz zu vertreiben. Die Nacht war noch nicht vorüber, aber ein Geräusch hatte ihn geweckt. Er blickte um sich und sah Irdri seelenruhig neben sich schlafen. Das Gesicht des Mädchens strahlte eine Glückseligkeit aus, die Jirohs Erinnerungen zurückbrachte und ihm einen Stich versetzte. Er mochte Irdri, zweifellos, aber er konnte ihr nicht das geben, was ihr rechtmäßig zustand. Dennoch verstand er ihr Glück. Sie teilte sich mit ihm eine große Liebe, für die Jiroh sogar bereit war, die Ehe einzugehen: Die Liebe zu Moru.

Jiroh sah sich erneut um. Die andere Seite des Bettes war leer. Wo war Moru? Die Morgenröte war noch weit entfernt. Es war viel zu früh und zu gefährlich, um das Haus zu verlassen. Jiroh befreite sich aus dem Bettlaken, das sich wie eine Schlange um seine Füße gewickelt hatte und verließ leise das Schlaflager. Das Haus bestand aus einem großen Wohnraum mit einer Küchennische und dem mit einem verzierten Paravent abgetrennten Schlafbereich. Die Glut des Herdfeuers vom Vortag spendete angenehme Wärme und erleuchtete den Raum sanft. Jiroh trat um den Paravent – ein Hochzeitsgeschenk von Irdris Mutter – und ging durch den stillen Raum. Seine Hände glitten über die raue Oberfläche des Tisches, auf dem Irdri gestern die Taoka-Bohnen geschält hatte, die Moru ihnen gebracht hatte. Die Schalen lagen noch in einem geflochtenen Korb unter dem Tisch und verströmten einen würzigen Duft, der Jirohs Appetit anregte. Wo war Moru?
Wieder blickte er sich verwirrt um und strich seine Hand durch das schulterlange schwarze Haar. Ein Windhauch streifte seine Wange und Jiroh hörte das leise Knarren der Eingangstür, die sich durch den Luftstrom leicht öffnete. Das war es, dachte Jiroh. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte.

Jiroh tastete neben der Tür nach seinen Schuhen und stellte überrascht fest, dass Morus Schuhe noch immer neben Irdris und seinen Schuhen standen. Vermutlich war Moru bloß dem Ruf der Natur gefolgt und würde Jiroh schelten, wenn er ihm jetzt nachging. Doch Jirohs Gedanken kreisten nachts immer um die düsteren Legenden der Älteren und deren Warnungen an die Kinder, niemals nachts allein nach draußen zu gehen. Moru würde darüber gewiss lachen. Er, der immer der stärkste und selbstsicherste der älteren Jungen im Dorf war, würde sich über alte Legenden keine Gedanken machen.

Vermutlich waren sie unvorsichtig und sind in den Abgrund gestürzt. Das ist die eigentliche Gefahr, Jiroh. Nicht irgendwelche Schatten aus alten Legenden. Also geh nicht zu nahe an die Grenze, egal ob bei Tag oder Nacht.

Jiroh konnte Morus fröhliche Stimme in seinem Kopf hören, doch wieder wurde sie von seiner eigenen, besorgten Stimme übertönt. Selbst wenn der Abgrund die größte Gefahr für sie darstellte, sollte Moru trotzdem nicht nachts alleine draußen herumspazieren.
Der Nachthimmel war sternenklar und hatte leichten Raureif auf den Gräsern hinterlassen, der im Licht der Sterne glitzerte und die Umgebung zu einer magischen Märchenlandschaft verwandelte. Jiroh lauschte angestrengt. Wohin mochte Moru gegangen sein?

Geht niemals bei Dunkelheit in die Nähe des Waldes. Er ist gefährlich. Wenn euch nicht eine der Baumkatzen erwischt, werden es die Schatten tun.

Moru hätte darüber gelacht. Vermutlich war das der Grund, weshalb Jiroh sich entschloss, zuerst den Weg in Richtung Wald zu erkunden. Moru konnte bestimmt nicht weit entfernt sein. Nach wenigen langsamen Schritten fiel Jiroh in einen Lauf und duckte sich unterhalb eines Dachvorsprungs. Er hörte das leise Geräusch eines Nachtvogels, der lauernd durch die Luft glitt. Ein großer Schatten verdunkelte die Sterne und zog rasch vorüber. Ein Schatten. Jiroh erschauderte.

Er wartete einen Augenblick und lief dann weiter in Richtung Wald. Es war nur ein kurzer Weg, ehe die Bäume sich drohend und dunkel vor ihm erhoben. Der Weg führte geradewegs in die beklemmende Düsternis. Jiroh zögerte. Wenn euch nicht eine der Baumkatzen erwischt…

Vielleicht war Moru gar nicht hier lang gegangen, vielleicht… Ein kurzer Aufschrei riss Jiroh aus seinen Gedanken. War das Morus Stimme? Der Ruf kam nicht aus dem Wald, sondern von der Weide. Jiroh rannte am Rand des Waldes entlang, bis er die freie Steppe erreichte, wo tagsüber Ziegen grasten, die einzigen Tiere, die keine Angst vor dem gefährlichen Abgrund hatten, der die ausgedehnte Wiese begrenzte. Jiroh sah wieder den geheimnisvollen Vogel durch die Luft gleiten. Er war riesig, zweifellos größer als die Flughunde, die aus den Nebeltälern kamen und gelegentlich eine Rast im Wald einlegten. Das Tier schien etwas zu jagen. Eine Gestalt, die taumelnd durch das Gras stolperte. Jiroh konnte nicht erkennen, wer es war. Das Licht der Sterne war zu schwach, aber Jirohs Gefühl sagte ihm, dass es Moru sein musste. Wieder ein kurzer Aufschrei, als der Gejagte die Gestalt des dunklen Vogels hinter sich bemerkte. Sein Lauf wurde schneller und unbedacht. Mit Entsetzen erkannte Jiroh, dass der Mann geradewegs auf den Abgrund zulief.

Jiroh sprintete los. Das Gras flog unter seinen Füßen vorbei. Die von Felsbrocken übersäte Wiese brachte ihn an mehreren Stellen beinahe zu Fall, doch Jiroh hielt zielstrebig auf den Mann zu, in dem er Moru zu erkennen glaubte. „Moru!“ Sein Schrei durchschnitt die Stille der Nacht wie ein Messer. Der Mann hielt kurz vor dem Abgrund inne, drehte sich zu Jiroh und erwiderte seinen Ruf, doch im selben Moment traf ein gellender Schrei auf Jirohs Ohren und ließ ihn erstarrt zu Boden sinken. Das geflügelte Wesen gab ein metallisches Kreischen von sich, dass Jirohs Gehör einige Sekunden lang betäubte. Seine Augen blieben jedoch auf Moru haften. Moru, den er jetzt an seiner stolzen Haltung erkannte, hatte den Blick entsetzt auf das reptilienartige Wesen gerichtet, das kurz vor ihm zu Boden sank, riesige Flügel drohend ausbreitete, während es seinen drachenähnlichen Kopf streckte und mit seinen scharfen Zähne nach Moru schnappte. Betäubt von dem gellenden Schrei trat Moru einen Schritt nach hinten und verlor den Boden unter seinen Füßen.

„Moru!“ Jiroh konnte den Fall hinter dem Vorhang aus Tränen kaum sehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und rissen hilflos an den Grashalmen, während er versuchte, sich aufzurichten.
Das geflügelte Wesen gab einen weiteren Schrei von sich und hob den Kopf triumphierend, ehe es Morus Fall folgte und in die Tiefe stürzte.
Jiroh taumelte zu der Stelle, wo er Moru zuletzt gesehen hatte und blickte nach unten. Das Nebeltal war dunkel und von Wolken verhüllt, die im Licht der Sterne wie frisch geschnittene Wolle aussahen und verträumt glitzerten. Am Rand des Abgrunds lag eine Halskette. Ein Lederband mit einem grob geschnitzten Totem, das Jiroh als Morus Schutztier erkannte. Sein Gefährte war in die Tiefe gestürzt und hatte jenes Schicksal erlitten, vor dem er Jiroh gewarnt hatte. Dennoch klangen auch die Worte der Älteren nicht länger abergläubisch.  

Wenn euch nicht eine der Baumkatzen erwischt, werden es die Schatten tun.

Jiroh umklammerte Morus Totem in seiner Hand und spürte warme Tränen seine Wange hinab rollen. Moru….


© Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.

Saturday, March 29, 2014

Erlösung



Die Wolken zogen rasch über den Himmel. Der Morgen brach nur langsam über St. Agnus herein. Das einsame Eiland war in der Sturmnacht Wind und Wetter erbarmungslos ausgesetzt gewesen und präsentierte sich im ersten Licht des neuen Tages als von Treibholz übersätes Schlachtfeld.

Steve hatte sich entgegen der Warnung seiner englischen Campingplatz-Nachbarn nicht von der Ein-Mann-Bootstour abbringen lassen. Immerhin hatte sich das Meer in den frühen Morgenstunden beruhigt und auch die knapp 900 Meter Entfernung zur südlichsten Insel der malerischen Scilly Isles schreckten ihn nicht ab. Die verträumte Insel St. Agnes, wo er auf einem Camping-Platz urlaubte, erschien Steve nach einer knappen Woche ohnehin etwas langweilig. Es wurde Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Am Strand von St. Agnus, der winzigen, unbewohnten Nachbarinsel, fragte sich Steve jedoch, ob der Ausflug überhaupt die Mühe wert war. Von der Sonne gebleichte Steine, frisches Treibholz und natürlich die obligatorische Menge an angeschwemmtem Müll enttäuschten seine Abenteuerlust eher. Der Inselteil West Annet bot jedoch einen herrlichen Blick auf grenzenlosen Ozean, hinter dessen blauen Weiten die wirklichen Abenteuer warten mussten. Steve sah seinen Aufenthalt hier mittlerweile bloß als Erholung vom stressigen Arbeitsalltag. Dabei hätte er sich sehr auf etwas Abwechslung und Aufregung gefreut.

Die von glitschigen Algen bewachsenen Steine am Ufer beherbergten zahlreiche kleine Krabben, die Steves Näherkommen nur mit der raschen Suche nach einem Versteck würdigten. Neugierig drehte er einen der Steine um und eine ganze Schar der kleinen Tiere stob auseinander um unter den benachbarten Kieseln Unterschlupf zu finden. Steve lächelte und legte den Stein vorsichtig wieder zurück. Sein Blick glitt wieder über das Meer, das auf dieser Seite der Insel stärkere Wellen gegen den Strand rollen ließ und Steves Gesicht regelmäßig mit einem sanften Sprühnebel benetzte. Die schäumenden Wellen brachen sich einige Hundert Meter vor ihm an einer Felsengruppe. Steve zwinkerte kurz und sah noch einmal genau hin.

War das ein Bootssegel auf dem Felsen?
War ein Boot in der Sturmnacht vom Kurs abgekommen und gegen die Felsen geprallt? Vorsichtig bewegte er sich auf den Felsen zu. Ein leichtes Unbehagen machte sich in seinem Magen breit. Falls er tatsächlich ein Bootswrack finden sollte, würden die Passagiere vermutlich nicht mehr am Leben sein. Dennoch musste er in so einem Fall sofort die Küstenwache alarmieren.

Seine vorsichtigen Schritte wurden zu einem schnellen Lauf über den unebenen Strand. Die groben Kieselsteine gaben unter seinen Füßen nach und Steve fluchte, als er beinahe den Halt verlor. Mit einem Satz sprang er auf den Felsen und blickte auf der anderen Seite ins Wasser. Die schäumenden Wellen, die sich hier in einer kleinen Lagune fingen wiesen tatsächlich eine Menge Trümmer auf, die wie Reste eines Holzbootes aussahen. Steve kniff die Augen zusammen und suchte im hellen Licht der Morgensonne das Wasser ab. Da sah er es. In einem kurzen Moment zwischen zwei heranrollenden Wellen erblickte er den Rumpf eines kleinen Schiffes, nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche. Das Segel gehörte zweifellos zu diesem unglücklichen Wrack. Aber wo waren die Besitzer?

Mit etwas Glück hatte sich das Boot lediglich im Sturm losgerissen und hatte den Weg von St. Agnes bis hierher von selbst gefunden, ehe es an den Klippen zerschellte.

„Hey, Sie! Was machen Sie da?“ Steve rutschte vor Schreck fast von seinem Felsen, als er die autoritäre Stimme hinter sich hörte.
„Hier ist ein Boot gesunken. Ich sah das Segel hier hängen und wollte nachsehen.“ Er deutete auf das weiße Laken. Der Fremde zeigte sich wenig überrascht.
„Dann ist er also hier. Der Segler war gestern Nacht auf dem Weg zum Hafen und wurde vom Sturm überrascht. Wir haben zwar noch den Notruf empfangen, aber als wir rausfuhren, konnten wir das Schiff nicht mehr finden.“ Steve erkannte an der Jacke des Mannes, dass er zur Küstenwache von St. Agnes gehörte. Also war doch jemand an Bord. Und derjenige war jetzt mit Sicherheit tot.

 Steve blickte auf das aufgewühlte Wasser. „Warum hätten sie bei dem Unwetter in See stechen sollen?“
Der Mann winkte ihn zu sich. „Kommen Sie herunter. Ich werde meine Kollegen informieren, damit das Schiff geborgen werden kann. Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf.“
Steve fragte sich, warum der Mann ganz alleine auf der unbewohnten Insel unterwegs war. Hatte er etwa auf eigene Faust nach dem Schiff gesucht, als seine Kollegen schon längst aufgegeben hatten? Ein kurzer Blick auf die unruhigen Augen und die durchnässte Kleidung des Mannes, ließen in Steve Zweifel aufkommen. Ehe er diese jedoch äußern konnte, erkannte er im Wasser etwas, das sein Blut gefrieren ließ.

Ein bleicher Körper löste sich vom Meeresgrund und hob sich langsam an die Oberfläche hob. Die weiße Haut leuchtete wie Elfenbein in der Morgensonne. Die noblen Gesichtszüge des jungen Ertrunkenen waren so entspannt und gleichförmig, dass Steve selbst im unmittelbaren Entsetzen nicht an eine Wasserleiche dachte. Nur ein roter Schnitt am Knopf verriet, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelte und nicht um eine angespülte Schaufensterpuppe.

„Hier liegt jemand im Wasser!“
Wie lange lag der Kerl schon unter Wasser? Was hatte Steve bei seinem Erste-Hilfe-Kurs damals gelernt? Er versuchte sich zu erinnern, das einzige, das ihm jedoch in den Sinn kam, war die Tatsache, dass sie damals nie über Ertrinkende gesprochen hatten.

Was wenn er zu spät kam und der junge Mann schon tot war?

Steve sprang vom Felsen ins seichte Wasser und starrte den Körper an. Es dauerte einige Sekunden, bis er realisierte, dass sich die Lippen des Mannes öffneten und schlossen, wie ein Fisch, der nach Luft schnappte. Wasser rann in seinen Mund und seine Nase. Steve biss die Zähne zusammen um eine Entscheidung zu treffen. Wenn er den Mann jetzt nicht aus dem Wasser zog, würde er mit Sicherheit ertrinken. Wo war der verdammte Küstenwächter?

„Rufen Sie endlich Verstärkung. Der Mann lebt noch!“
Er packte den nackten Jungen kurzerhand an der Schulter und zog ihn zu einem nahen Felsen, in der Hoffnung, dort irgendeine Art von Wiederbelebung hinzubekommen. Zu allem Überfluss hatte er sein Mobiltelefon im Camp gelassen!

Steve sog den Geruch nach Algen und Salz ein, der ihm von den schulterlangen schwarzen Haaren des Jungen in die Nase strömte. Die Platzwunde an seinem Kopf schien der Grund für die Bewusstlosigkeit zu sein, doch sein Körper spannte sich unter Steves starkem Griff spürbar an. Es dauerte mehrere Sekunden ehe er den Grund des unnatürlichen Gewichts bemerkte, das den Jungen im Wasser hielt. Unterhalb seines Nabels setzte sich sein Körper in einer seltsamen aalförmigen Struktur fort, die sich, nun da Steve bereits den größten Teil davon aus dem Wasser gezogen hatte, als riesige flossenähnliche Struktur entpuppte, die der Flosse eines Grauwals erstaunlich ähnlich sah. Er legte den Kopf des Jungen behutsam auf die runden schwarzen Kiesel, die sich zwischen den mächtigen Felsen sammelten und setzte sich stolpernd auf seinen Hintern, ungeachtet der Wellen, die immer noch heran schwappten und ihn dabei regelmäßig bis zum Bauch durchnässten. Der junge Mann lag friedlich da. Seine Augen flimmerten leicht und seine Wange zuckte unter den hellen Strahlen der Sonne, die sich ihren Weg durch die vorbeitreibenden Wolken suchte.

„Sie haben ihn also gefunden.“ Der seltsame Fremde war endlich hinter den Felsen aufgetaucht. Warum unternahm er nichts?

Steve streckte seine Hand aus und berührte die Brust des Jungen. Er fühlte sich kalt an. Unnatürlich kalt. Dennoch war er nicht tot. Ein schneller Herzschlag bewies dies eindeutig. Steves Hand wanderte über den muskulösen Bauch und berührte den glatten Übergang zwischen menschlicher Haut und grauen Schuppen, unter denen sich kräftige Muskeln befanden. Die Flosse des Wesens trieb sanft an der Wasseroberfläche und bewegte sich mit jeder Bewegung des Wassers.

„Entweder verliere ich jetzt völlig den Verstand oder das ist ein unglaublich gut gemachter Trick“, flüsterte er mehr zu sich selbst. „Sehen Sie dasselbe, was ich sehe?“ Steve wandte den Kopf zurück, um die Reaktion des Mannes auf seine verblüffende Entdeckung zu sehen. Der Fremde wirkte nicht besonders überrascht und sah den verletzten Mann mit versteinerter Miene an.

Der Mund des Jungen öffnete sich leicht und das Gesicht verzog sich zu einer Geste des Schmerzes. Die Kopfwunde! Zumindest diese musste echt sein.
„Haben Sie schon Hilfe gerufen? Haben Sie einen Notfallkoffer in ihrem Boot? Wir müssen die Blutung stillen.“ Steve trennte sein T-Shirt am Saum auseinander und riss einen Fetzen Stoff ab, um ihn an die blutende Wunde zu pressen.

„Mein Boot ist leider untergegangen“, erwiderte der Küstenwächter.

Steve sah den Stein nicht, den der Fremde anhob. Er sah jedoch, wie sich die Hand des verletzten Mannes bewegte und seine Augen sich öffneten. Steve war starr vor Schreck, als er in den kristallblauen Pupillen die Spiegelung des Mannes hinter sich sah, der mit erhobener Hand hinter ihn trat, um etwas auf ihn zu schleudern. Der Meeresmann reagierte jedoch schneller und warf einen Stein gezielt in das Gesicht des Angreifers, ehe er aufsprang, Steve am Handgelenk ergriff und ihn tiefer ins Wasser zog, wo die beiden sofort in den heranrollenden Wellen verschwanden. Steve verlor sofort die Orientierung. Eine Hand streifte an spitzen Steinen und dichten Algen, während die andere in Tausende Luftbläschen eintauchte, die beim Anrollen der Wellen im Wasser entstanden.

Endlich wurde das Meer etwas tiefer und Steve konnte mit geöffneten Augen den Grund von der Wasseroberfläche unterscheiden. Der Junge musste tatsächlich ein echter Meeresmann sein. Er hatte ihn immer noch fest im Griff und zog ihn mit sich, während er mit kräftigen Flossenschlägen durch das Wasser schnellte. Steve versuchte, seine Hand zu befreien, um kurz an der Oberfläche nach Luft zu schnappen. Der Meeresmann verstand ihn wortlos und zog ihn nach oben, wo ihre Köpfe an der Oberfläche auftauchten.
Steve hustete und sog dann die kalte Seeluft in seine Lungen.

„Wir müssen hier weg eher er uns sieht. Wo soll ich dich hinbringen?“, sagte der Meeresmann mit belegter Stimme. „Du kannst sprechen?“ Steve blickte ihn überrascht an. Der Junge ignorierte seine Frage und blickte sich besorgt um.
„Ich wohne auf einem Camping-Platz auf St. Agnes. Fast eine Meile in diese Richtung.“ Steve deutete eine Kurve um St. Agnus an, hinter der sein Camping-Platz liegen musste.  Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, tauchte der Meeresmann wieder unter und zog Steve mit wilden Flossenschlägen mit sich. Steve schloss die Augen und versuchte, dem Wasser so wenig Widerstand wie möglich zu bieten und hielt seinen freien Arm eng an seinem Körper. Mit kurzen Pausen an der Oberfläche dauerte es nur wenige Minuten, bis der größte Teil der Strecke zurückgelegt war. Doch bevor die beiden das rettende Ufer erreichten, fasste sich der Meeresmann mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf und sein muskulöser Fischschwanz erschlaffte.  Er hatte offenbar das Bewusstsein verloren und trieb haltlos im freien Wasser. Steve erfasste Panik. Er befreite sich aus dem Griff des Jungen und tauchte an die Oberfläche, wo er so viel Luft, wie in seine Lungen passte, einsog und die Entfernung zum Ufer abschätzte. Danach tauchte er unter und folgte dem weißen Schatten des Jungen, der langsam immer tiefer nach unten trieb. Der Druck in seinen Ohren wurde fast unerträglich, als Steve endlich den Arm des Mannes zu Fassen bekam und ihn nach oben zog.  An der Oberfläche angelangt, umarmte er den Hals des Jungen und zog ihn mit sich, während er rückwärts schwimmend in Richtung Ufer steuerte. Es dauerte nun wesentlich länger voranzukommen und kostete Steves ganze Kraft, doch schließlich spürte er tatsächlich Grund unter seinen Füßen und ließ sich auf die Knie sinken. Er konnte es kaum glauben, aber sein Kraftakt hatte ihn tatsächlich bis zum Strand des Camping-Platzes gebracht, wo sein blaues Zelt bereits auf ihn wartete – und der Notfallkoffer.

„Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“ Steve war nicht sicher, ob der Junge ihn überhaupt hören konnte. Sein Gesicht war wieder von Schmerzen verzerrt und er stöhnte leise. Steve ließ ihn im Wasser liegen und rannte hinüber zu seinem Zelt, wo er eine große Decke holte und den Meeresmann darin einwickelte, bevor er ihn zu seinem Zelt trug und die Stofftür schloss, in der Hoffnung, dass niemand das seltsame Schauspiel mit angesehen hatte.

Hastig kramte er den Notfallkoffer hervor. Im Inneren befanden sich wie erwartet jede Menge Mullbinden und Pflaster. Er riss hastig die Verpackung auf und rollte mehrere Lagen des Stoffes ab. Der Junge begann sich unruhig zu bewegen, während Steve eine Wundkompresse an seine Stirn drückte. Die Hand des Verletzten erhob sich langsam und fasste suchend an seinen Kopf, wo seine kalten Finger Steves Hand berührten und unsicher zurückschreckten. Steve beeilte sich, die Mullbinden um den Kopf des Wesens zu legen, das er sich nur als reale Version einer männlichen Meerjungfrau erklären konnte. Etwas Klebefilm hielt den Verband schließlich an seinem Platz.

Steve packte den Rest des Verbands schließlich zurück und erzitterte, als er bemerkte, dass der Mann seine Augen geöffnet und direkt auf ihn gerichtet hatte. Die eisblauen Augen leuchteten im Licht der Sonne wie die Iris einer Katze im Lichtkegel eines Autoscheinwerfers. Steve erkannte in seinem Blick Angst, aber auch eine große Neugier. Die kantigen Gesichtszüge und die makellose Haut erinnerten Steve an junge Adelige, die wohlbehütet im Kreise der Reichen und Schönen fernab von allen existentiellen Sorgen lebten. Dennoch war die Schönheit des Jungen nicht mit einem gutaussehenden Menschen zu vergleichen, sondern eher mit der Anmut eines Tigers, der sein Überleben in einer unwirtlichen Umgebung stolz und selbstsicher meistert. Steve konnte die kräftigen Muskeln unter der Haut sehen, als er versuchte, sich vorsichtig zu bewegen. Sein Mund, eben noch mit dem Anflug eines Lächelns gebogen, verzerrte sich durch den Schmerz einer falschen Bewegung und er ließ sich wieder kraftlos auf den Schlafsack sinken.

„Ganz langsam. Was ist denn passiert?“, Steve legte seine Hand beruhigend auf die Brust des Jungen und spürte sein Herz nervös schlagen. Er erwiderte seinen Blick, sah sich im Zelt um und räusperte sich.
„Der alte Mann wollte dich verletzen. Wo sind wir hier?“
„Das ist mein Zelt. Wir sind am Camping-Platz von St. Agnes. Danke dass du mich vorhin gerettet hast. Ich hab den Angriff nicht vorhergesehen.“ Steve wusste nicht wo er beginnen sollte.
„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“ Der Junge war überrascht über die Frage und nickte langsam.
„Wer bist du? Bist du so etwas wie eine Meerjungfrau?“ Steve errötete leicht, als er die Frage gestellt hatte. Es war vermutlich die dümmste Frage, die er in dieser Situation stellen konnte.  Zu seiner Verwunderung, lachte der Junge kurz auf.
„Ich und eine Meerjungfrau? Wie kommst du darauf? Ich bin ein Fischer aus Hugh Town. Mein Name ist James Davy.“ Der Junge versucht sich aufzusetzen und hielt sich an Steves Schulter fest.
„Ich bin Steve. Und was hat es mit deinem Fischschwanz auf sich?“ Er zog die Decke kurz weg und deutete auf den grauen Fischleib unterhalb James‘ Bauchnabel. Die Augen des Jungen weiteten sich und er umklammerte Steves Oberkörper. Steve zog ihn zu sich und ließ den Kopf des Jungen an seiner Schulter ruhen.
„Woran kannst du dich denn erinnern? Was ist heute Nacht geschehen?“ Steve versuchte ruhig zu sprechen, konnte aber ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrucken.

Der Junge starrte ausdruckslos ins Leere und formte Worte mit seinen Lippen, die Steve nicht ausmachen konnte. Schließlich blickte er in seine Augen und schien sich zu beruhigen.
„Ich bin aufgewacht… Etwas Schweres lag auf mir. Ich dachte ich sei tot und wäre in der Hölle, aber es waren nur Steine und Sand.“ Die Augen des Jungen zitterten, als versuchte er zu weinen, aber es kamen keine Tränen. „Es gelang mir, mich aus meinem kalten Grab zu befreien und ich fand mich am Meeresgrund wieder. Ich hatte erst gar nicht bemerkt, dass etwas an mir verändert war. Ich schwamm zur Oberfläche und habe mich dort auf einen Felsen gesetzt, wo das Wasser mich überspülen konnte. Ich saß dort viele Tage. Ich hatte keinen Hunger oder Durst und die Zeit war unwichtig.“ James schloss die Augen. Eine unangenehme Erinnerung verdunkelte sein Gesicht.

„Da war ein Boot. Es hatte mich entdeckt und kam immer näher. Ich sah darauf den Mann, der dich heute verletzen wollte. Ich tauchte jedes Mal unter und kehrte erst zurück als das Boot weg war. Doch letzte Nacht… der Sturm war so laut und das Meer unruhig. Ich erinnere mich nur an einen dumpfen Schlag und erwachte dann, als du über mir gebeugt warst.“ Es kostete James seine gesamte Kraft, sich zu erinnern und er hatte die Hand, mit der er in Steves Shirt nach Halt suchte mittlerweile zur Faust geballt. Steve verstand nun was passiert war.

„Der Fremde wollte dich fangen und ist im Sturm zu nahe an die Klippen gefahren“, erklärte er flüsternd. James‘ Geschichte hatte jedoch nur noch mehr Fragen aufgeworfen.
„Kannst du dich an etwas aus deinem früheren Leben erinnern? Du bist jetzt ein Meeresmann mit einem sehr englischen Namen. Was hat es damit auf sich?“
James schloss angestrengt die Augen. „Ich war Fischer. Ich erinnere mich daran genau. Ich bin bei meinem Vater in Hugh Town aufgewachsen und habe bei ihm das Fischereihandwerk gelernt.“
„Wann wurdest du geboren?“, warf Steve kurz ein.
„1825. Wieso?“ James‘ Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er keine Ahnung, dass mittlerweile 170 Jahre vergangen waren. Steve versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
„Du hast eine lange Zeit geschlafen. Kannst du dich an Details aus deinem Leben erinnern?“
James Blick verdunkelte sich erneut. „Ich kann mich erinnern. Ich wurde bestraft.“

Ein düsteres Donnergrollen ließ die Erde erbeben. Das Unwetter war zurückgekehrt und unterstrich James‘ Worte unheilvoll.

„Bestraft wofür?“ Steve nahm die geballte Hand des Jungen und löste den eisernen Griff langsam.
„Da war ein Mädchen… Sie war die Tochter eines reichen Händlers und sie… begehrte mich. Ich hätte froh sein müssen, von ihr überhaupt eines Blickes gewürdigt zu werden. Aber ich war nicht verliebt in sie. Statt ihr den Hof zu machen beging ich eine unverzeihliche Sünde. Ich erinnere mich an den Blick ihrer Augen, als sie uns entdeckte und den Fluch aussprach.“ Steve nahm James‘ Gesicht in seine Hände, sodass sich beider Männer Blicke trafen.

„Was für eine Sünde?“, fragte er ernst. James zögerte, sichtlich beschämt darüber zu sprechen.
„Ich habe einen Mann begehrt… nachdem mir klar wurde, dass auch er für mich so empfand, haben wir uns der Sünde hingegeben und wurden dabei überrascht“, erklärte er mit geschlossenen Augen.
Steves Gedanken kreisten um Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung oder Betrug. Was er hier jedoch hörte, schien ihm in keinster Weise sündhaft zu sein, zumal er diese Gefühle selbst sein ganzes Leben gehabt hatte und diese auch offen lebte.
„Einen Mann zu lieben ist keine Sünde, James“, Steve sah den unsicheren Blick in seinem Gegenüber. „Zumindest nicht in meiner Welt.“
„Dann ist deine Welt eine bessere als meine es war“, antwortete James traurig.
„Du bist jetzt ein Teil davon“, lächelte Steve und wiegte James aufmunternd in seinen Armen.

Der langsam aufkommende Regen wurde stärker und prasselte gegen das Zeltdach. Das Quietschen wütender Reifen drang durch den Lärm und schreckte Steve auf.
Er öffnete das Zelt und blickte nach draußen auf den Parkplatz, wo das Licht zweier Autoscheinwerfer seine Augen blendete. Ein Mann trat ins Licht. Er trug einen länglichen Stock in der Hand, den Steve erst bei näherem Hinsehen als Gewehr erkannte.

Was wollen Sie?“, rief er in Richtung des Fremden.
„Die Kreatur“, erwiderte der Bewaffnete. „Ich weiß, dass sie bei dir ist und ich werde nicht ohne sie gehen.“ Er entsicherte seine Waffe.
„Warten Sie!“ Steve erkannte James‘ Stimme hinter sich. Der Meermann hatte sich auf seinen Händen ins Freie geschleppt und lag keuchend auf dem schlammigen Boden. „Ich komme freiwillig mit, aber lassen Sie ihn in Frieden.“ Er fand Steves besorgten Blick.

Der Fremde schritt zielstrebig auf James zu, die Waffe weiterhin auf Steve gerichtet. Hastig beugte er sich runter und packte den Meermann am Oberarm, um ihn einhändig zurück zu seinem Wagen zu schleifen. Doch ehe Steve reagieren konnte, krümmte sich James‘ Körper und der Fischschwanz des Jungen traf seinen Entführer mit voller Wucht am Kopf, sodass dieser die Waffe fallen ließ und zu Boden taumelte.
Steve entriss James aus dem eisernen Griff des Irren und trug ihn zum Strand, wo die Wellen bereits wütend über den Sand rollten.
Ein hallender Schuss durchbrach das Getöse des Unwetters und brachte es für den Bruchteil einer Sekunde zum Verstummen. Eine Sekunde, die Steves Füße ermatten ließ. Eine Sekunde, die James Augen weitete, als er das Blut auf Steves Brust sah. Eine Sekunde, in der das Meer sich zornig aufbäumte und die beiden Männer in sich verschluckte. Steves Welt verschwand vor seinen Augen. Er hörte noch den verzweifelten Schrei seines Freundes und spürte die Kälte des Wassers auf seiner Haut. Jemand zog ihn tiefer ins Meer und er fühlte weiche Lippen, die sich auf seine pressten. Er hatte nie viel von den komplizierten Vorgängen verstanden, die angeblich zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt des Übernatürlichen stattfanden. Doch sein letzter Gedanke formte sich aus einem Gefühl der Zufriedenheit und aus dem Wissen, einen alten, ungerechten Fluch gebrochen zu haben. Mit einem Lächeln sank er tiefer hinab und fühlte keine Angst mehr.

***

Der Kastenwagen hielt so dicht am Ufer wie möglich. Es war dem Campingplatz zu verdanken, dass hier überhaupt die Möglichkeit bestand, so nahe an die Fundstelle heranzukommen. Die junge Frau, die aus dem Wagen sprang, drängte sich durch die Menge der Polizisten und Sanitäter. Sie ignorierte die abweisenden Kommentare der Männer und machte sich selbst ein Bild von dem Geschehen. Ihr Begleiter brauchte etwas länger, um zu ihr aufzuschließen, denn er trug schweres, technisches Equipment bei sich. „Bist du soweit Stan?“, fragte sie sachlich und strich sich ihre blonde Mähne aus dem Gesicht, die der Wind immer wieder zurückblies. Stan nickte und hob die Kamera an seine Schulter.  Die junge Frau nahm ein Mikrofon entgegen und begann, mit der Routine jahrelanger Übung, zu sprechen.

„Hier ist Cathy Mitchell von KWL. Ich berichte live von der britischen Insel St. Agnes, wo der Fund zweier Wasserleichen mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Es handelt sich um zwei Männer Mitte 20, die nackt an das Ufer gespült wurden. Was hier genau vorgefallen ist können die Ermittler derzeit noch nicht sagen. Fest steht jedoch, dass einer der beiden durch eine Schusswunde starb, während der andere offensichtlich ertrunken sein dürfte. In den frühen Morgenstunden war jedoch ein verwirrter Mann aufgetaucht, der behauptet hatte, bei einem der beiden Männer handle es sich nicht um einen Menschen, sondern um eine – und jetzt zitiere ich wörtlich – „männliche Meerjungfrau“. Die zuständigen Sanitäter können jedoch nur bestätigen, dass beide Männer Menschen seien“ Cathy kicherte, zwang sich jedoch sofort wieder zu einem professionellen Ton. „Die alarmierten Sicherheitskräfte haben jedoch im Auto des Mannes jene Schusswaffe sichergestellt, mit der einer der beiden Männer mit hoher Wahrscheinlichkeit erschossen wurde. Experten prüfen dies gerade.

Dennoch wirft der seltsame Mord viele Fragen auf. Die Identität eines der beiden Toten konnte bereits festgestellt werden. Wer oder ‚was‘ der zweite Mann war kann erst nach genauerer Analyse durch Experten der Mordkommission festgestellt werden. Ich bin Cathy Mitchell von KWL und ich halte Sie auf dem Laufenden.“


 © Copyright 2014, Jiroh Windwalker
Alle Rechte vorbehalten.



Sunday, March 16, 2014

Schatten



Das letzte Licht der hereinbrechenden Abenddämmerung fiel auf schroffe Felsen, die das Tal zu einer nahezu undurchdringlichen Wildnis aus Stein machten. Am Fuß der langgezogenen Schlucht sammelte sich Wasser aus zahlreichen Sturzbächen in einem gemächlichen Fluss, der von dichten Wäldern umrahmt nur durch sein leises Gurgeln auf sich aufmerksam machte, das an den steinernen Wänden widerhallte.

Inmitten dieser rohen Schönheit stand ein einzelner Fels, dessen Spitze nicht mit von Wind und Wetter geformten Steinriesen endete, sondern eine bescheidene Kirche beherbergte. Erbaut auf jahrhundertealten Steinmauern, von gelegentlichen hohen Bögen durchbrochen, thronte das Gebäude in einer Atmosphäre von Stille und Einsamkeit. Die hellen Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die alte Kirche in ein warmes Licht und verliehen ihr damit eine heimelige Wärme inmitten des unwirtlichen Tals. Eine Atmosphäre, die das Hereinbrechen der Nacht unweigerlich zu Grabe tragen würde.

Schmale Stufen, in der steilen Felswand kaum zu erkennen, führten aus den Tiefen der bewaldeten Schlucht in einem sanft ansteigenden Kreis um den Fels in Richtung des mystischen Gotteshauses mit seinem beinahe unwirklich anmutenden Glockenturm. Zwei in dicke Mäntel gehüllte Gestalten erklommen die Stufen hastig, zweifellos hoffend, ihr Ziel noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen.

„Bist du sicher, dass dort oben niemand ist?“, flüsterte der junge Mann und griff nach dem Mantel seines Begleiters, um ihn zurückzuhalten. Seine Hand wurde ungeduldig weggeschlagen.
„Wie oft muss ich es dir noch sagen? Dort oben ist niemand. Es ist ein verfluchter Ort, der von Menschen und Schatten gemieden wird“, antwortete der drahtige Wanderer gereizt. Wenn sie noch weitere Pausen einlegten, um immer dieselben Argumente zu wiederholen, würden sie es nie rechtzeitig auf den Gipfel schaffen.  Er blickte zu dem Jungen hinter sich und forderte ihn mit einem Nicken auf, weiterzugehen. Sein Begleiter wirkte wenig begeistert.
„Ich vermute er wird aus gutem Grund gemieden. Ich finde, wir sollten mit dieser Tradition nicht brechen“
Jiroh sparte sich eine weitere Antwort und erklomm hastig die rauen Steinstufen. Rechts von ihm fiel der Fels steil hinab und endete irgendwo unterhalb der Bäume, welche die Sicht auf den Grund des Abhangs verdeckten. Ihre Verfolger befanden sich zweifellos bereits ganz in ihrer Nähe und warteten im Schutz des dichten Waldes auf eine Gelegenheit zuzuschlagen. Nur die einsamen Kirchenmauern mit ihrer schrecklichen Vergangenheit schienen Jiroh einigermaßen Schutz vor den Gefahren der Nacht zu bieten. Er hoffte inständig, dass die Tore der Kirche für sie offen standen – und dass die alte Kirche noch Tore besaß, die man verbarrikadieren konnte!

Die rosa aufleuchtenden Wolken verdunkelten sich langsam und die untergehende Sonne ließ den leeren Vorhof der Kirche in Finsternis versinken, als Jiroh und sein Freund Aran den Gipfel erreichten und auf das verfallene Gebäude zueilten. Trotz des schlechten Zustandes der Mauern war die Kirche intakt. Das große Holztor gab ächzend unter Jirohs Armen nach und das Innere der Kirche öffnete sich vor den beiden Flüchtigen wie der dunkle Schlund eines riesigen Ungeheuers. Aran schüttelte den Gedanken rasch von sich und warf einen letzten Blick auf den terrassenförmigen Hof. Mit Schaudern fürchtete er, jeden Moment dunkle Schatten auftauchen zu sehen, die, aus der Tiefe kommend, über die bröckelnde Brüstung kletterten.  Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Seine Augen hatten sich noch nicht an die völlige Dunkelheit angepasst, doch hörte er rasche Schritte auf sich zukommen und wich instinktiv zur Seite, als ein großes Holzstück neben ihm zu Boden fiel.

„Hilf mir die Tür zu blockieren. Hier sind noch Holzbänke, die noch nicht völlig zerfallen sind. Stapel sie vor dem Tor übereinander.“ Jirohs Stimme klang erschöpft doch bestimmt. Aran überging das mulmige Gefühl, das ihn in diesem hohen Raum überkam, dessen Innenleben er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Lediglich der modrige Geruch wies darauf hin, dass irgendwo Holzbänke stehen mussten. Vorsichtig tastete er sich voran und stolperte über eine Bank, die offensichtlich nach vorne gekippt am Boden lag. Er packte sie und trug sie langsam zurück zum Tor, wo Jiroh bereits eine zweite Bank über der ersten platziert hatte.
Aran ließ sich müde auf die Bank fallen, die er – nicht ohne Hintergedanken – mit der Sitzfläche nach oben vor das Tor gestellt hatte. Jiroh gesellte sich schwer atmend zu ihm und zog seine Beine an sich, die Ellbogen auf den Knien ruhend. Arans Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und er starrte Jirohs Profil an, ehe sein Blick über den hohen Raum mit den gotischen Glasfenstern strich, die sich nachts als graue Flächen von den tiefschwarzen Mauern abhoben.

„Und was jetzt?“, flüsterte er schließlich.
„Warten.“ Jiroh vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Aran konnte nicht erkennen, ob er versuchte einzuschlafen oder geräuschlos in seinen Ärmel weinte. Er hatte Jiroh noch nie weinen gesehen und es schien ihm unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet jetzt damit anfing. Er stieß ihn auffordernd in die Seite.
„Warum sagtest du, ist dieser Ort eigentlich verflucht?“ Seine Stimme war so leise, dass nur Jiroh ihn hören konnte. Der schlaksige Junge saß bewegungslos, doch ehe Aran seine Frage wiederholen konnte antwortete er leise.
„Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass niemand weiß wer die Kirche gebaut hat. Sie war immer schon hier, solange sich unser Volk erinnern kann.  Die Erbauer sind vermutlich vor irgendetwas oder irgendjemandem geflohen oder alle gestorben. Daher stammt die Legende des Fluchs. Unsere Leute haben diesen Ort immer gemieden.“ Aran nickte interessiert.
 „Welcher Gott wurde hier angebetet?“, stochert er weiter. Jiroh warf rasch seine Arme um Aran und bedeckte seinen Mund mit einer Hand, den Kopf seines Freundes auf das Kirchenschiff richtend, wo ein menschlicher Umriss vor einem der Fenster auftauchte. Waren die Fenster eigentlich noch intakt oder war das Glas schon längst zerbrochen? Entsetzen erfasste Aran, als er sah, wie die Gestalt ins Innere der Kirche kletterte und in der Dunkelheit verschwand. In derselben Dunkelheit, in der er mit seinem Freund in der Falle saß. Jiroh presste seine Handfläche kurz fester auf seine Lippen, um ihn zu erinnern, nicht zu sprechen. Dann ließ er seine Hand sinken und griff nach dem Dolch an seinem Gürtel, den er geräuschlos aus der Scheide zog. Aran spürte den Puls an seiner Schläfe pochen. Eiskaltes Entsetzen packte ihn. 

„Kinder des Berges, fürchtet euch nicht“, raunte eine heisere Stimme aus der Dunkelheit vor ihnen. Ein heller Lichtschein durchbrach die Dunkelheit und die Gestalt legte drei leuchtende Steine vor Jiroh auf den Boden. Das Gesicht des Fremden wirkte angespannt, doch nicht feindselig. Die roten Tätowierungen, die sich von seinem Hals über seine Wange schlängelten verliehen ihm dennoch ein angsteinflößendes Aussehen. Er schloß die Augen und seufzte. „Moru schickt mich zu euch.“

Jiroh sprang wütend auf und näherte sich dem Eindringling mit erhobenem Dolch. „Sprich nicht über Moru als sei er dein Freund! Ihr habt ihm sein Leben gestohlen!“
Der Fremde hob die Handflächen als Friedenszeichen und trat einen Schritt zurück. „Moru hat dafür gesorgt, dass ihr nach Hause zurückkehren könnt, ohne von meinem Volk gejagt zu werden.“ Er deutete auf das hohe Tor hinter ihnen. „Er ist hier. Du kannst mit ihm sprechen.“
Geräuschlos verschwand der geheimnisvolle Bote wieder in der Dunkelheit. Aran ergriff Jirohs Arm, um den Jungen aus seiner Starre zu befreien. Er erblickte Jirohs glasige Augen in der Dunkelheit und erschauerte. „Du glaubst ihm?“
Aran  konnte die Gedanken seines Freundes förmlich hören, als dieser die Augen schloss und den Kopf senkte. Jirohs Zerrissenheit ängstigte ihn mehr als seine eigene Hilflosigkeit. Ohne Vorwarnung wirbelte Jiroh herum, steckte die Klinge weg und kämpfte sich hastig durch die übereinandergestapelten Bänke zum Tor. Aran half ihm, das schwere Holztor zu öffnen, das ächzend den Blick auf eine von zahlreichen Fackeln erhellte Szenerie freigab. 

Vermummte Gestalten standen in einem Halbkreis vor ihnen. Einer der Fremden trat vor. Halbnackt und zitternd, mit unsicherem Gang, sank er schon nach wenigen Schritten auf die Knie und stützte sich mit einer Hand am Boden ab. Aran blieb wie angewurzelt stehen. Er fühlte sich wie eine Maus im Angesicht eines Falken, während ein Dutzend Augen auf ihm ruhten.
„Moru! Oh, Moru!“, Jiro kniete sich vor die Gestalt am Boden, umfasste den Hals des Mannes mit seiner Hand und berührte zärtlich seine Stirn mit seinen Brauen. Aran erkannte im Licht der Fackeln, dass der Mann tatsächlich Moru war. Der selbe Moru, der ihn einst gelehrt hatte Wasserbeeren zu ernten und Bergdrosseln zu jagen. In einer anderen Welt, vor langer Zeit. Jirohs Gesicht war von Tränen durchnässt, während er den Kopf an die Stirn seines Gefährten presste.
„Jiroh…“, Moru’s blutgetränkte Augen suchten Jirohs ziellosen Blick. Moru hob das Kinn des Jungen und sah ihm in die Augen. Das bleiche Gesicht des Mannes hatte nur wenig mit Jiroh’s Gefährten gemein und dennoch waren die Züge vertraut. „Jiroh.. bitte geh nach Hause.“
 „Wie könnte ich dich zurücklassen? Wir sind soweit gekommen. Ich gehe nicht ohne dich.“ Der Junge schluchzte bitterlich.
„Irdri braucht dich. Du musst jetzt auf sie aufpassen.“ Er führte seine Lippen an Jirohs Ohren. Diese Worte waren nur für ihn bestimmt. „Versprich mir, nachts niemals dem Ruf eines Sternenhundes zu folgen. Sie holen nur die Unvorsichtigen, die sich vom Dorf entfernen.“
Jiroh nickte zögernd. „Bitte komm mit uns. Bleib nicht hier bei diesen Schatten“, flüsterte er unter Tränen. Moru blickte zu Boden. Die Hand mit der er sich auf der Erde stützte, war bereits von zahlreichen Tätowierungen gezeichnet. Einem seltsamen Muster folgend schlängelten sich die unnatürlichen Formen über seinen nackten Oberkörper und endeten auf seiner rechten Wange. 
„Ich kann nicht mit dir gehen. Meine Erinnerungen verblassen mit jeder Stunde. Aber jetzt werden sie dich und Aran noch unbeschadet gehen lassen. Sie haben es versprochen…. sie haben es versprochen.“ Moru senkte müde den Kopf. Jiroh erkannte die Bissmale auf Morus Genick und erzitterte beim Anblick der kleinen rote Punkte, durch die das Gift der Schatten in seinen Körper gedrungen war.
Aran trat langsam hinter Jiroh und legte eine Hand auf seine Schulter. Die Schatten hatten hinter Moru eine Passage in ihren Reihen freigegeben, die zu den Stufen des Berges führte. Jiroh erkannte das Angebot und schloss die Augen. Er musste eine Entscheidung fällen.

Langsam erhob er sich und nahm Arans Hand von seiner Schulter. Seine Augen blickten gebannt auf den schmalen Durchgang in die Freiheit, umgeben von den unwirklich anmutenden vermummten Schatten, die ihn interessiert beobachteten. Sein Blick war kalt und leer, als er seinen Dolch langsam aus der Scheide zog.
„Aran, lauf“, knurrte er. Sein Ton ließ keine Widerrede zu. So sehr Aran sich Jiroh an seiner Seite wünschte, fügte er sich doch und glitt vorsichtig an den Schatten vorbei. Ehe er die Stufen hinab lief, suchte er Jirohs Augen und deutete mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Jiroh blickte entschlossen zu Boden und Aran verschwand aus seinem Blickfeld. Er hatte nicht vor, denselben Weg zu gehen.

Eine Hand auf seinem Arm befreite Jiroh aus seiner Starre. Moru sah ihn flehend an.
„Bitte…“ Seine Tränen hinterließen rote Bahnen auf seiner Wange. Jiroh kniete sich zu ihm und hob den Kopf seines Gefährten, um ihm ein letztes Mal in die Augen zu sehen. Sanft berührte er Morus Lippen mit seinem Mund. „Ich lasse dich niemals zurück.“
Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres sprang Jiroh auf die Beine, entblößte den gezogenen Dolch und stürzte auf die umstehenden Gestalten zu. Die Schatten hatten seinen Angriff erwartet und warfen ihn mit einem Schlag gegen die Brust zu Boden, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Klirrend fiel der Dolch zu Boden. Unzählige Körper umringten ihn und hielten seine Hände und Füße fest, bis Jiroh nur noch ein verschwommenes Gewirr aus grauen Mänteln vor seinen  Augen wahrnahm, das sich schließlich teilte, um einer grässlichen Kreatur Platz zu schaffen, die einem von Haut und Muskelfasern spärlich überzogenen Skelett ähnlich sah. Die messerschaften Zähne in seinem Mund leuchteten im Schein der Laternen wie ein Satz frisch geschliffener Messer.

Jiroh spürte den Biss an seinem Hals nicht. Sein letzter Blick galt Moru, der sich unweit von ihm entfernt am Boden wand und seine Hand nach Jiroh ausstreckte. Eine Geste, die Jiroh jegliche Angst und Zweifel nahm. Er hatte Moru gefunden. Seine Reise war zu Ende. Nun würde er mit ihm vereint sein, wenn auch nicht auf die Weise, die er sich zu Beginn seiner Reise erhofft hatte. Das Gift in seinem Körper ließ seine Muskeln erschlaffen und seine Lider wurden schwer. Er nahm das blutüberströmte Maul des Monsters ebenso wenig wahr, wie die Hände, die ihn anhoben und seinen Körper aus dem Vorhof der verfallenen Kirche trugen. Sein Geist verlor sich in der Dunkelheit der Nacht, die selbst durch die Fackeln der Schatten nicht mehr erhellt werden würde.
Oh, Moru, was ist nun aus uns geworden? Möge Aran den Weg nach Hause finden und uns vergessen, denn wir sind verdammt…

 © Copyright 2014, Jiroh Windwalker 

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