Thursday, October 30, 2014

Tödliche Stille (Teil 1)

Der Tod gehörte schon immer zu meinem Leben. Mein Vater war General bei der US-Army und erklärte mir schon als Junge mit trauriger Stimme, dass niemals alle Soldaten seiner Corps lebend aus einem Einsatz zurückkehrten. Für mich klangen seine Geschichten dennoch aufregend, jedes Wort war ein Abenteuer, in dem ich meinen Vater als strahlenden Helden kämpfen sah.

In meiner Jugend war keiner meiner Träume größer als jener, selbst in die Fußstapfen von General Blake Hunter zu treten und meinen eigenen Beitrag für den Schutz unseres Landes und der Menschen in Not in den entferntesten Winkeln der Erde zu leisten.
Meine Noten waren niemals die besten, aber als herausragender Sportler erhielt ich gegen Ende meiner High School-Zeit zahlreiche Stipendienangebote, die mir Türen zu den besten Universitäten des Landes geöffnet hätten.

Ich habe sie alle ausgeschlagen. Für mich kam nur die United States Military Academy in West Point, New York in Frage. Meinem Vater gelang es sogar, mir trotz meiner durchschnittlichen Noten eine Empfehlung eines Kongressabgeordneten zu besorgen, damit ich überhaupt in den ehrenwerten Kreis der seriösen Bewerber kam.

Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich ausgerechnet an dem glücklichsten Tag meines Lebens, als ich die Zusage der Academy erhielt und mein Umzug nach New York unmittelbar bevor stand. Mein Vater hatte mir seine Krankheit mehrere Monate lang verheimlicht. Als ich ins Wohnzimmer gestürmt kam, mit dem offenen Brief in meiner Hand, sah ich meine Mutter über die leblose Gestalt meines Vaters gebeugt, sein Gesicht kreidebleich auf dem Sofa. Sanitäter brachten ihn wenige Minuten später ins Krankenhaus, wo er noch drei Monate auf der Intensivstation lag, ehe seine Organe den Kampf gegen den Krebs aufgaben und ich zum Halbwaisen wurde.

Meine glorreiche Zukunft war mit einem Mal deutlich weniger verlockend. West Point wartete immer noch auf mich, aber ohne meinen Vater hatte ich das Gefühl, meinen Traum mit niemandem teilen zu können. Mit Tränen in den Augen trat ich schließlich meine Ausbildung an, fest davon überzeugt, das Motto der Akademie "Pflicht, Ehre, Vaterland" in meiner Seele zu verankern.

In den folgenden Jahren hatte ich mit vielen akademischen Herausforderungen zu kämpfen - ich war nicht gerade der beste Schüler -  aber durch meine athletischen Begabungen hatte ich schon bald die meisten meiner Vorgesetzten (ich frage mich, warum ich sie eigentlich nie als "Lehrer" bezeichnet hatte) auf meiner Seite und schaffte es Jahr für Jahr durch die immer komplizierter werdenden Prüfungen. Meine Zeit unter zahlreichen trainierten jungen Männern ließ mich auch eine andere Seite an mir entdecken, die ich mit Anfang 20 in dunklen Winkeln mit gleichgesinnten Kadetten erforschte. Sagen wir, die Voraussetzung während der Ausbildung keine Ehe einzugehen bereitete einigen von uns keinerlei Schwierigkeiten.

Ich lernte schnell, dass das Ausleben meiner Neigungen dank Jahrzehnten harter Arbeit der Menschen früherer Generationen zwar nicht mehr verboten war, man jedoch den Zorn der älteren Offiziere auf sich ziehen konnte, wenn man sich nicht unter dem Deckmantel eines asexuellen Soldaten versteckte. Da meine Karriere für mich an erster Stelle stand, hatte ich nicht vor, einen meiner Vorgesetzten zu vergrämen und mauserte mich zu einem Musterkadetten, der bei der Abschluss-Zeremonie sein Bachelor-Zertifikat und den militärischen Rang des Second Lieutenant mit einer Reihe ernst gemeinter Gratulationen und Handschläge der höherrangigen Offiziere entgegen nehmen konnte.

Ich wünschte mein Vater wäre dabei gewesen, als wir unsere Dienstmützen mit einem Freudenschrei in die Luft warfen und uns in unseren grauen Uniformen in die Arme fielen.

Wenn ich jedoch daran denke, was danach folgte, bin ich froh, dass mein Vater dies nicht mehr erleben musste. Zu Beginn meiner 5-jährigen Dienstverpflichtung nach der Academy war es nur ein Gerücht. Niemand wusste genau, was in Syrien vor sich ging. Der Geheimdienst, zu dessen Informationen ich als Offizier des V Corps in Deutschland Zugriff hatte, berichtete von einer Seuche, die sich rasend schnell verbreitete und offenbar hoch infektiös war. Die internationalen Medien wurden jedoch erst darauf aufmerksam, als ein Pilot in der Whiteman Air Force Base in Missouri nach seiner Rückkehr aus Syrien zusammenbrach und kurz darauf der gesamte Militärflughafen unter Quarantäne gestellt wurde. Doch auch außerhalb der Sperrzone gab es kurz darauf Opfer in der zivilen Bevölkerung. Und die Geschichten, die sich wie ein Lauffeuer in den Medien verbreiteten waren mehr als beunruhigend.

Doch erst als die ersten Videoaufzeichnungen aus den betroffenen Gebieten in Missouri auf NBC auftauchten brach tatsächlich Panik aus. Der Live-Stream eines Journalisten zeigte kreidebleiche Menschen mit blutunterlaufenen Augen, die sich langsam auf den Kameramann zubewegten, während der Journalist mit seinem Mikrofon Fragen stellte. Die leblos wirkenden Menschen griffen wie in Trance nach den Händen des Journalisten und näherten sich dem Kameramann bis auf wenige Zentimeter, ehe sie ihre Zähne in den Arm des Reporters bohrten, dessen Schmerzensschreie uns am anderen Ende der Welt erschaudern ließen. Der Kameramann ließ schließlich die Kamera fallen und flüchtete, wodurch die Bildübertragung abbrach und durch ein weißes Rauschen auf den Bildschirmen ersetzt wurde, ehe ein Nachrichtensprecher, sichtlich betroffen, die soeben gesendeten Bilder zu interpretieren versuchte.

Ich wischte mir damals kalten Schweiß von der Stirn und blickte in die entsetzen Augen meiner Kameraden. Es dauerte nur wenige Tage, ehe die Regierung den Notstand ausrief und alle Menschen aufforderte in ihren Häusern zu bleiben. Nach Missouri tauchte die mysteriöse Erkrankung in den benachbarten Staaten Illinois und Arkansas auf. Täglich telefonierte ich mit meiner Mutter und Schwester in Arkadelphia, die mir versicherten in Sicherheit zu sein.

Doch als schließlich die Einwohner von Chicago von der Seuche erreicht wurden und die Menschen panisch aus der Stadt flohen verbreite sich die Krankheit mit unfassbar schneller Geschwindigkeit, sodass die US Army vom Präsidenten zur Bildung einer Spezialeinheit aufgefordert wurde, welche der Seuche nicht nur Einhalt gebieten sollte, sondern Medizinern und Wissenschaftler auch die Möglichkeit geben sollte, die Krankheit gefahrlos zu untersuchen, um rasch ein Gegenmittel zu finden.

Zu dem Zeitpunkt war in den Medien längst von einer "Zombie-Invasion" die Rede, da Betroffene allem Anschein nach ihre höheren kognitiven Fähigkeiten verloren und nur noch dahinvegetierten, mit der einzigen Motivation, andere Menschen zu beißen, um die Krankheit (laut ersten Analysen vermutlich ein Virus) zu übertragen.

Ich meldete mich sofort freiwillig für die Spezialeinheit und wurde in einem Crashkurs über Biowaffen und Virologie informiert. Ebenso wurde uns von höchster militärischer Ebene eine sogenannte "Lizenz zu töten" ausgestellt, wie wir die einmalige Regelung scherzhaft nannten, welche uns erlaubte, zivile Personen, die wir als infiziert erkannt hatten, sofort zu töten.
Die "Lizenz" galt solange, bis ein geeignetes Medikament zu Behandlung gefunden werden konnte, was laut den damaligen Experten nur eine Frage von Wochen sein sollte.

Wochen.

10 Jahre lang war ich Teil der Sondereinheit und habe unschuldige Frauen und Kinder sterben sehen, viel zu oft durch meine eigene Hand. Das Virus, ein Retrovirus, das sich in der Regel durch eine Bisswunde im Körper des Wirts einnistete, hatte einen ähnlichen Effekt, wie das mittlerweile relativ einfach zu behandelnde Rabiesvirus, das bei Tieren und Menschen eine als Tollwut bekannte Krankheit auslöste, die Verhaltensänderungen und Beißzwänge mit sich brachte.

Die als Lentusfieber klassifierte Krankheit - oder "Zombiefieber", wie es in den Medien genannt wurde - schrieb sich selbst in das Genom des Wirts und vermehrte sich über die genetische Transkription der Wirtszellen, wodurch das Virus trotz Behandlung nicht mehr aus den Erkrankten entfernt werden konnte.

Ich durchlief während meiner Zeit als "Zombie-Jäger" eine reguläre Militärkarriere und war mit 33 Jahren im Rang eines Captains angelangt. Meinem Platoon oblag die Bergung von gesunden Menschen aus stark betroffenen Gebieten. Nicht selten kamen wir zu spät und fanden ganze Dörfer und Kleinstädte vor, in denen alle Bewohner bereits infiziert waren. Auch wenn noch nicht alle Erkrankten Symptome zeigten, waren unsere Befehle eindeutig:
Alle Infizierten mussten "gesichert" werden. Das war die nationale Richtlinie der Gesundheitsbehörde, die mit dem Militär seit einigen Jahren eng zusammenarbeitete.
Worin diese Sicherung bestand, war jedoch in keiner Tageszeitung zu lesen. Niemals werde ich die angsterfüllten Augen vergessen. Kleine Mädchen mit blutenden Bisswunden am ganzen Körper, die noch bei vollem Bewusstsein waren und nicht verstanden, was vor sich ging, als wir plötzlich mit gezogenen Gewehren vor ihnen standen.
Ich ließ es immer kurz und schmerzlos geschehen. Es gab Platoons, die Gefallen daran fanden, ihren Blutrausch an unschuldigen Menschen auszuleben, unter dem Deckmantel der "nationalen Sicherheit".
Keiner meiner Soldaten durfte jedoch auch nur eine Sekunde zögern und jeder Schuss musste sitzen.
Ich weiß nicht, ob ich damals meine Seele verlor, oder ob "Gott", oder wer auch immer über uns wacht, meine Taten tatsächlich als gerechtfertigt zum Wohle der Menschheit interpretierte.

Vermutlich hätte ich es früher oder später wie zahllose andere Kameraden gemacht und mir meine Waffe selbst angesetzt. Aber trotz all der Verzweiflung und ständigen Angst gab, es für mich einen Grund nicht aufzugeben: Adam Westfield.

Ich hatte meine Sexualität nach Ausbrechen der Seuche komplett meiner Arbeit untergeordnet. Nach einigen Abenteuern an der Academy gab es für mich weder erste Gehversuche in Richtung einer Partnerschaft, noch anonyme Treffen zur Befriedigung meiner Triebe. Die Hölle, durch die wir täglich gingen, erstickte solche Gefühle sofort im Keim.
Adam Westfield war Second Lieutenant und inoffiziell meine rechte Hand im Platoon. Wie ich war er Absolvent der Academy und absolvierte in unserer Einheit sein letztes Pflichtjahr. Ich hatte sofort in seinen Augen gesehen, dass er sich für mich interessierte. Nicht als seinen Vorgesetzten wie viele seiner jungen Kollegen, sondern als Mann. Es dauerte nur wenige Tage, ehe er meine Barrieren durchbrach und während eines Außeneinsatzes in Lousiana in mein Zelt kam. Ich wies ihn zurecht und befahl ihm, zurück in sein Feldbett zu gehen, doch als ich seine Lippen auf meinen spürte, fielen alle Rangunterschiede von uns ab und für wenige Stunden existierten nur noch wir zwei auf dieser Welt.

Am nächsten Morgen wusste das ganze Platoon über uns Bescheid. Verärgert wies ich einige vorlaute Soldaten in ihre Schranken, doch erst als Adam mir in einem unbeobachteten Moment einen grauen Schal reichte, um die blutunterlaufenen Flecken an meinem Hals zu bedecken wurde mir klar, weshalb ich für mein Platoon plötzlich ein offenes Buch war.
Doch unsere Arbeit war zu grausam, als dass die Bettgeschichten eines führenden Offiziers weiter von Interesse waren und so kam es, dass niemand unsere unangemessene Beziehung ansprach und Adam schließlich permanent mein Bett mit mir teilte.
Diese ruhigen Stunden zu zweit waren die schönste Zeit in meinem Leben. Das Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut, der Geruch seiner Haare - alles hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und erinnerte mich an ein Leben abseits der Seuche, abseits nationaler Sicherheitsinteressen.

Adam wollte das Militär nach seiner Dienstverpflichtung verlassen und ich war bereit mit ihm zu gehen. Er hatte seine ganze Familie an das Lentusfieber verloren und hatte niemanden der auf ihn wartete. Wir machten gemeinsame Pläne. Ich konnte kaum erwarten, ihn meiner Mutter und meiner Schwester vorzustellen. Wir sprachen davon, gemeinsam ein Cafe in Akadelphia zu eröffnen. Ich würde an der Bar stehen, Adam würde servieren und Laura, meine Schwester, die Buchhalterin, würde uns bestimmt mit dem finanziellen Teil einer solchen Unternehmung helfen. Ein gemeinsames Leben lag vor uns - und zum ersten Mal in meinem Leben freute ich mich auf die Zukunft, unsere gemeinsame Zukunft.

Ich hätte die ersten Anzeichen erkennen sollen. Adam war im Bett immer selbstbewusst und ungestüm. Als er sich zu mir legte, ohne sein Hemd auszuziehen hätte ich hellhörig werden sollen. Ich erzählte ihm von meinem ereignisreichen Tag im Hauptquartier der Spezialeinheit und welche neuen Pläne die Gesundheitsbehörde diesmal zur Bekämpfung der Seuche hatte. Adam hatte geschwiegen und nur gelegentlich genickt. Ich beschloss, ihn in Ruhe zu lassen und schlief in seinen Armen ein.

Unser nächster Einsatz führte uns nach Calhoun in Louisiana. Knapp 2000 Einwohner mit einem geschätzten Infektionsgrad von 75%. Die wenigen noch nicht infizierten Bewohner sollten in das Quarantäne-Lager in das knapp 130 km entfernte Shreveport gebracht werden, Adam war an diesem Morgen zerstreut. Er behauptete eine Grippe auszubrüten, wollte aber nicht vom Dienst fernbleiben. Ich war mit der Logistik unseres Einsatzes zu sehr beschäftigt, um auf ihn zu achten.

Wie erwartet, war Calhoun ein "Zombie-Nest", das wir nur durch ein Blutbad sichern konnten. Wir hinterließen zahllose Leichen auf unserem Weg zur Calhoun Middle School, wo sich laut unserer Zentrale eine Gruppe nicht infizierter Bewohner zurückgezogen hatte. Der Morgen war ohne bemerkbaren Übergang in den Vormittag gewechselt und kalter Nieselregen mischte sich mit dem Schweiß auf unseren Gesichtern, der mir in den Augen brannte.
"Captain Hunter!" Ich blickte zu Mitchell, einem blutjungen Kadetten, der sich erst vor wenigen Wochen unserem Platoon angeschlossen hatte.  Ich folgte seinem Blick zu Adam, der zwischen unseren Kameraden kniete und sich mit mit schmerzverzerrter Miene an den Kopf fasste.

"Lieutenant Westfield? Alles okay?" Ich versuchte neutral zu klingen. Er reagierte nicht. Ein eiskalter Schauer lief über meinen Rücken.

"Adam?", fragte ich unsicher und ließ trotz jahrelanger Ausbildung und Kampferfahrung mein Gewehr fallen, als sei es mir aus den Fingern gerutscht. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Adam blickte mich mit blutunterlaufenen Augen an.

"Mitch..." Seine Stimme war heiser. "Es tut mir leid." Er zog seinen Ärmel zurück und ich starrte ungläubig auf die blutunterlaufene Bisswunde an seinem Unterarm.

Meine Soldaten riefen mir etwas zu, doch mein Gehirn konnte sich keinen Reim darauf machen. Ich fiel auf die Knie und griff nach Adams Hand. Wie in unseren gemeinsamen Nächten ließ er sich in meine Arme sinken und umfasste mich mit festem Griff. Diesmal bohrten sich seine Finger jedoch schmerzhaft in meinen Rücken und sein Mund suchte die unbedeckte Haut an meinem Nacken. Ich ließ ihn gewähren, starr vor Entsetzen und blind vor Angst.
Adams Gewicht drückte mich nach hinten und mein Kopf schlug hart auf dem Asphalt des Schulparkplatzes auf, während Adam sich an mich presste. Kräftige Hände lösten gewaltsam Adams Griff und rissen ihn von mir weg. Die Tränen in meinen Augen versperrten meinen Blick. Ich war erstarrt und wusste, dass meine Männer das Standardprotokoll ausführen würden. Sie stießen Adam auf den Boden und entfernten sich einige Meter, damit eventuelle Blutspritzer keinen der Soldaten treffen würden. O'Toole, einer der Scharfschützen aus dem Team setzte sein Gewehr an und zielte auf Adams Kopf. Ich nahm den Schuss nur gedämpft war, der dumpfe Schmerz auf meinem Hinterkopf eine willkommene Decke, die meine Sinne einhüllte und die Welt in Dunkelheit versinken ließ.

Ich erwachte in einem neuen Leben. Die Quarantäne-Station des Hauptquartiers war steril und kalt. Ein Arzt, zu meiner Verwunderung ohne Schutzanzug bekleidet, erklärte mir, dass ich gesund sei und bald wieder auf den Beinen wäre. Die Verletzung an meinem Kopf war nicht schlimm. Ein paar Tage Ruhe und ich könnte wieder mein Platoon anführen.
Doch Ruhe fand ich nicht. Bei meinem ersten Einsatz nach Adams Tod, sah ich überall Adams Geist, der mich anklagend anstarrte. Die "Zombies" von Eureka, unserem nächsten Einsatzort, trugen alle Adams Gesicht und ich war nicht in der Lage auch nur einen von ihnen zu neutralisieren.
Ich war weder überrascht noch verletzt, als meine Soldaten eine Beschwerde gegen mich einreichten und ich vom Dienst suspendiert wurde. Zahllose Gespräche mit Militärpsychologen später wurde ich dauerhaft vom Dienst freigestellt und schließlich mit einer ansehnlichen Abfindung entlassen.

Mein nächstes Ziel: Arkadelphia. Zurück zu meiner Familie und meiner Vergangenheit, mit nichts als den wenigen zivilen Klamotten, die ich am Leib trug und einem Sack gefüllt mit meinen privaten Habseligkeiten. Ein 33 Jahre alter gebrochener Mann, gestrandet im Nirgendwo.
Und allein.

Resident Evil 6 - Chris Redfield & Piers Nivans

Tuesday, October 28, 2014

Die andere Seite des Spiegels

Sarah balancierte das filigrane Cocktail-Glas zwischen ihren Fingern und
setzte es auf der Brüstung der ausladenden Terrasse ab. Der weiße Marmor
leuchtete in der Augustsonne. Sie rückte die Sonnenbrille auf ihrer Nase
zurecht und blickte über den weitläufigen Garten.

Ihre Augen fielen auf einen einsamen Schubkarren zwischen zwei Bäumen und
sie runzelte ihre Stirn, ehe das Läuten des Telefons
im Inneren des gläsernen Wintergartens ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sie entschloss sich, es zu ignorieren.

Das Cocktailglas brach das Licht in Regenbogenfarben auf den Steinfliesen,
die ebenso weiß und poliert waren wie die Brüstung. Sarah betrachtete das
Lichtspiel und ignorierte das Klingeln bis sie erkannte, dass der Anrufer
nicht aufgeben würde, ehe sie abhob. Die nächste Investition war eindeutig
ein Anrufbeantworter.

Sie ging mit wenigen Schritten zu dem geflochtenen Korbtisch neben der
Schiebetür und griff nach dem Telefon.

"Sarah? Du musst mir helfen..." Maggies Stimme klang aufgeregt und sie fiel
wieder in den hastigen Redefluss, den Sarah an ihrer besten Freundin am
wenigsten leiden konnte. Nach einer Minute des Zuhörens unterbrach sie
Maggies Ausführungen.

"Connor ist gegangen? Du meinst, er hat dich verlassen?"
Maggie stöhnte am anderen Ende der Leitung.

"Er hat mich nicht verlassen. Ich habe ihn rausgeworfen, weil er eine
Affäre mit dieser Kellnerin begonnen hat. Wie konnte er mich nur so
hintergehen?"

Sarah blickte wieder über die Terrasse und beobachtete den Gärtner, der
einen Korb mit Grasschnitt aus dem hinteren Teil des Anwesens geholt hatte
und den Schubkarren damit füllte. Die Schweißperlen auf seinem Oberkörper
glitzerten in der Sonne.

"Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass Connor nur hinter deinem Geld her
ist, Maggie. Er ist wie alt? 25? Es wundert mich nicht, dass er nach
jüngeren Fischen Ausschau hält."
Sarah hörte die Entrüstung förmlich in der Leitung.

"Willst du damit sagen, dass ich zu alt für ihn bin? Wegen der paar Jahre
Altersunterschied?"

Sarah setzte ihre Sonnenbrille ab und rückte ihren ausladenden Sommerhut
zurecht.
"Von wievielen Jahren reden wir, Maggie? Ich hatte meinen 42. Geburtstag.
Den wievielten hattest du? Ach, ich vergaß, wir sind ja gleich alt."

Sarah lächelte über ihren Scherz. Es tat gut, Maggie zu quälen.

"Connor denkt ich sei 29", antwortete Maggie trocken.

"Bei allem Respekt, meine Liebe, aber soweit ist die Schönheitschirurgie
noch nicht."
Maggie ignorierte den Seitenhieb.

"Was hat eine Kellnerin das ich nicht habe?"

Sarah hatte den Faden der Konversation verloren und beobachtete den jungen
Gärtner, der den Schubkarren gebückt über den Rasen schob. Er bemerkte
Sarahs Blick auf sich ruhen und richtete sich auf, seine Augen direkt auf
Sarah gerichtet.

"Maggie, ich muss leider aufhören. Ich habe etwas auf dem Herd. Wir hören
uns später."

Sarah hörte den Kommentar ihrer Freundin nicht mehr, als sie den Hörer auf
den Tisch zurücklegte. Sie hatte in ihrer Küche seit Jahren nichts mehr
angerührt, außer natürlich ihrer Cocktails. Sollte Maggie denken was sie
wollte. Der Anblick des Gärtners verscheuchte jeden Gedanken an ihre
Freundin aus Sarahs Kopf.

"Ms Carlyle?" Joe hielt seine Mütze in seinen Händen, als wäre sie ein
Zylinder, den er respektvoll von seinem Kopf gezogen hatte. Sarah schwebte
die breite Treppe der Terrasse herab. Als ihre Füße den weichen Rasen
berührten, war sie froh, keine High-Heels zu tragen.

"Was gibt es Joe? Ich sehe du bist fleißig." Sie hielt ihre Sonnenbrille
zwischen Daumen und Zeigefinger und biss keck auf den Bügel.

"Ich wollte Sie etwas fragen. Darf ich nächsten Samstag einen Tag frei nehmen?"
Sarah war überrascht.

"Frei nehmen? Seit wann benötigt ein kräftiger junger Mann wie du einen Tag
Pause?" Sie musterte ihn interessiert.

"Ich habe... Pläne. Wäre es möglich? Ich verspreche, am darauf folgenden
Tag mein Versäumnis aufzuholen."

Er fletschte seine blendend weißen Zähne zu einem Lächeln, das sein Gesicht
in attraktive Falten legte.

"Ich bin einverstanden. Solange freie Tage nicht zur Gewohnheit werden."
Sarah lächelte ihn verführerisch an. Der junge Mann dankte ihr
überschwänglich und griff nach seinem Schubkarren. Ein Ast fiel herunter.
Sarah beobachtete Joes Körper, während er sich nach unten bückte und nach
dem Holz griff. Ein unterdrückter Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken.
Sie musterte den Ast und bemerkte die langen Dornen, die wie Nadeln aus dem
Holz ragten. Joe hatte sich daran gestochen. Er fasste schnell nach dem
Hemd, das er in seinem Hosenbund befestigt hatte und wischte seine Hand
darin ab.

Sarahs Augen verengten sich, als sie die rote Spur sah, die auf dem Stoff
zurückblieb, ehe er wieder nach dem Karren griff und sich mit einem kurzen
Kopfnicken von seiner Arbeitgeberin verabschiedete.

Sarah blieb wie angewurzelt auf dem Rasen zurück. Erst als Joe außer
Sichtweite war, ging sie langsam zurück auf den Balkon und ergriff das
Telefon. Sie zögerte kurz, drückte dann aber einige Tasten.

"PCO, Sie sprechen mit Dana. Was kann ich für sie tun?", säuselte eine junge
weibliche Stimme.

"Meine ID ist Sarah Carlyle, 1422 Bodmin Avenue, Stafford. Ich möchte eine
Anfrage stellen."

"Ich bin gerne für Sie da. Womit darf ich Ihnen helfen?", fragte die Frau
interessiert.

"Kann ein Arbeiter vom Typ 5425 nach einer Hautverletzung rötliche
Flüssigkeit absondern?" Sarah blickte in den Garten. Joe war verschwunden.
Sie atmete tief durch.

"Sie meinen, ob ein Arbeiter bluten kann? Nur Bürger der Klassen A und B
können bluten. Arbeiter verfügen nicht über diese Funktion."

Sarah zögerte.

"Aber er blutet."

"Dann hat sich derjenige Ihnen gegenüber falsch klassifiziert. Oder er ist ein
Mensch." Die junge Stimme lachte.

"Ein Mensch? Ist das möglich?", Sarah blickte wieder nervös nach draußen.
Ihre Gesprächspartnerin schwieg für einen Moment. Sarah hörte eine rasche
Abfolge von Klicks.

"Es gibt in Stafford nur fünf registrierte Menschen. Keiner davon ist auf
freiem Fuß. Möchten Sie, dass ich einen Streifenwagen zu Ihnen sende?"
Sarah fasste an ihre Stirn und massierte sie nervös.

"Nein, vielen Dank. Ich bin sicher ich habe mich geirrt," Sie legte den
Hörer zurück, ohne sich zu verabschieden.

Vermutlich machte sie aus einer Mücke einen Elefanten. Joe hatte bestimmt
nur irgendwelche Beeren in der Hand, die rote Rückstände hinterließen. Er
war damals mit guten Referenzen gekommen. Es war gar nicht möglich, dass
ein Mensch durch das System rutschen konnte.

Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sie das Cocktail-Glas bemerkte,
das noch immer auf der Brüstung stand. Die klare Flüssigkeit blitzte hell auf, als sich die Sonne darin spiegelte. Sarah ging nach draußen und griff nach dem Glas.

Es dauerte einige Sekunden, ehe sie das Bersten der Splitter auf dem
Marmorboden wahrnahm. Sie wusste, dass das Glas bereits vor Sekunden kaputt gegangen war, aber erst jetzt verarbeitete ihr Gehirn die Geräusche. Oder die Tatsache, dass Joe plötzlich über ihr stand, während sie selbst auf dem Rücken in einer Pfütze aus Wodka lag.

"Es tut mir leid, Ms C. Ich wollte nicht, dass es so kommt."
Das Gerät in seiner Hand war unscheinbar, fast wie eine TV-Fernbedienung,
doch der magnetische Impuls, den es ausstieß, hatte Sarah vollständig
gelähmt.

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen beobachtete sie, wie Joe in seinen
Werkzeuggürtel griff und ein Instrument hervorholte, das einer Injektionsnadel beängstigend ähnlich sah.

"Nur eine kleine Modifikation." Er setzte das Gerät an ihren Hals und
injizierte eine Sonde, die schmerzfrei unter Sarahs Haut verschwand.

Joe beugte sich über sie und lächelte. Seine schwarzen Haaren fielen ihm in
die Augen. Er deutete auf ein Armband an seinem Handgelenk.

"Sehen Sie das? Das ist ein elektromagnetischer Emitter, der eine konstante Frequenz aussendet."
Er tippte leicht an Sarahs Hals, wo zuvor die kleine Sonde implantiert
worden war.

"Und das hier ist ein Mikrochip, der Ihr Gehirn beeinflusst, sobald er
aktiviert wird. Ihr Kurzzeitgedächtnis wird gelöscht und Ihr Gehirn wird
die Frequenz meines Emitters permanent ignorieren. Das bedeutet, Sie werden
mich weder sehen noch hören können, solange das Gerät aktiv ist."
Sarah öffnete die Lippen um Worte zu formen, brachte aber keinen Ton hervor. Joe zwinkerte.

"Sie fragen warum? Das ist ganz einfach. Wir bewegen uns im Verborgenen und versuchen, den Weg zurück zu finden. Zurück zu einer Welt, in der wir frei leben können. In der wir nicht von den Maschinen unterdrückt werden, die unsere Vorväter zu ihrer Unterhaltung erschaffen haben."
Joe tätschelte Sarahs Wange. Sie starrte ihn ängstlich an.

"Das ist das letzte Mal, dass Sie mich sehen. Schade eigentlich. Wäre ich
einer von Ihnen, hätten Sie mich wahrscheinlich früher oder später ins Bett
gekriegt."

Joe verschwand aus Sarahs Blickfeld und tauchte nicht mehr auf. Sie zählte
die Minuten. Ein kurzer Migräneanfall verriet ihr, dass sie eindeutig
zuviel getrunken hatte. Sie fasste sich an den Kopf und stütze sich auf
ihren Ellbogen. Die Pfütze, in der sie lag, stank nach Wodka und die
Scherben glänzten auf der Terrasse während der Alkohol langsam verdunstete.
Verdammt. Sarah schwor sich, mit dem Trinken aufhören. Wieder einmal.
Torkelnd kam sie wieder auf die Beine und stolperte ins Haus zurück.
Modesta würde das Missgeschick auf der Terrasse später beseitigen. Sie
hielt an der Schiebetür kurz inne und holte tief Luft.  Das gefaltete Stück
Papier neben dem Telefon erregte Sarahs Aufmerksamkeit und sie hob es hoch.

"Sehr geehrte Mrs Carlyle,
ich bedaure Ihnen so kurzfristig mitteilen zu müssen, dass ich meine Stelle
als Gärtner aus familiären Gründen nicht mehr antreten kann. Ich hoffe Sie
finden rasch Ersatz und sind mir nicht böse.
Ich danke Ihnen für die gute Zusammenarbeit.
Joe Mitchell"

Heute war der Tag der Enttäuschungen. Vielleicht würde sie Maggie später
anrufen. Wahrscheinlich aber eher nicht.

Sarah schüttelte den Kopf um die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.
Junge Gärtner gab es wie Sand am Meer. Und morgen war ein neuer Tag.

Monday, October 27, 2014

Der Erbe des Professors

"Was wollten Sie nochmal wissen, junger Mann?"
Gregg legte den Kugelschreiber zur Seite und blickte auf den alten Mann. Professor Cromwell, seine Finger fest in die blendend weiße Bettdecke gekrallt, hatte wenig mit dem Astrophysik-Experten gemein, dessen wissenschaftliches Erbe angeblich so visionär war, dass sein Namen in manchen Kreisen in einem Atemzug mit Einstein oder Heisenberg genannt wurde.
Der Auftrag, den zurückgezogen lebenden Wissenschaftler auf eigenen Wunsch hin zu interviewen, klang zuerst nach einem Karrieredurchbruch für Gregg. Nach mehreren Misserfolgen mit Artikeln über "Innovationen" in der IT-Branche, die sich rasch als Flop herausgestellt hatten, kam das ungewöhnliche Interview in einem kalifornischen Luxus-Altenheim gerade zum richtigen Zeitpunkt.
Leider ließ der Geisteszustand des alten Mannes sehr zu wünschen übrig.
"Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zu den Sternen, Professor Cromwell?", wiederholte er.
Die grauen Augen des Professors blickten ihn kurz an. Gregg glaubte, kurz einen scharfen Verstand darin zu sehen.
"Man muss die Sterne gar nicht lieben, um ihre Bedeutung zu erkennen. Die Astronomie und Astrophysik sind soviel mehr als nur ein Betrachten der Sterne um ihrer Schönheit willen."
Gregg überlegte kurz, das Zitat festzuhalten, entschied sich jedoch dagegen.
"Ihre theoretische Arbeiten im Bereich der Raumzeitkrümmung gelten als wegweisend bei den aktuellen Ansätzen der NASA zur Erforschung weit entfernter Bereiche des Weltraums. Welche Wissenschaftler haben Sie bei Ihrer Arbeit besonders inspiriert?"
Cromwell blickte verloren auf seine Decke.
"Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Professor ratlos an. Wer zum Teufel war Fabio Alvarez?
Ein junger Pfleger in weißem Kittel betrat den Raum. Der alte Mann hob den Kopf und blickte den Neuankömmling lächelnd an.
"Martin. Der junge Mann fragt, welche Wissenschaftler mich besonders inspiriert haben." Er legte eine Hand auf den Arm des Pflegers. Gregg bemerkte den freundlichen Blick, den der junge Mann dem Professor zuwarf.
"Das ist einfach, Professor. David Hilbert und Bernhard Riemann. Denker, die abseits großer medialer Popularität ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt haben."
Der erhobene Zeigefinger des Professors winkte zustimmend.
"Was täte ich nur ohne dich, Martin?"
An Gregg gewandt fügte er hinzu: "Schreiben Sie das auf, bevor ich es wieder vergesse."
Gregg machte eilig Notizen und beobachtete den Pfleger, der ein Teller und leere Trinkgläser vom Nachttisch des Professors einsammelte.
"Möchte ihr junger Kollege uns vielleicht Gesellschaft leisten, Professor Cromwell?"
Der Pfleger blickte Gregg überrascht an, doch der Professor schien den Vorschlag mit Begeisterung anzunehmen.
"Eine glänzende Idee! Martin, setz dich zu uns und erzähle dem jungen Mann was er wissen möchte. Du kennst mich mittlerweile besser als ich mich selbst, wie mir scheint."
Martin stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und zog einen zweiten Sessel an Professor Cromwells Bett.
Gregg musterte das Gesicht des jungen Mannes. Der glänzend schwarze Dreitage-Bart des Mannes wirkte attraktiv und passte zu seinem gebräunten Hautton. Die braunen Augen blickten Gregg schüchtern an.
"Was möchten Sie denn genau wissen?", sagte er.
Gregg lächelte ihn an und wandte sich seinem Notizblock zu.
"Fangen wir damit an, was den Professor in seiner Jugend dazu gebracht hat, sich für Astrophysik zu interessieren."
Martin überlegte kurz.
"Ich vermute, dass der Professor sich bereits als Kind für Sternenkunde interessiert hat. Aber seine erste große Leidenschaft galt dem Maschinenbau."
Greggs Stift kratzte eilig über das Papier. Diese Information war definitiv neu.
"Wie kam er vom Maschinenbau zur Astrophysik?"
Professor Cromwell fasste nach der Hand des Pflegers und drückte sie aufmunternd.
"Es wird Zeit, die Geschichte zu erzählen. Ich möchte nicht länger schweigen."
Martin nickte und seufzte. Gregg blätterte sicherheitshalber zu einer neuen Seite auf seinem Block und zückte den Stift.
"Vor 40 Jahren arbeitete der Professor für eine Tochterfirma des IBM-Konzerns, die sich auf den Vertrieb und die Wartung von Robotern und Androiden spezialisiert hatte.
"Während der Androiden-Aufstände von 2045?" Gregg blickte überrascht auf.
"Es war kurz vor den Aufständen. Die wenigsten Menschen wussten damals Bescheid, dass berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens keine Menschen, sondern menschenähnliche Roboter waren, die von Großkonzernen gelenkt wurden, um die Politik und Medienwelt gezielt kontrollieren zu können.
Professor Cromwell war Teil einer ganzen Armee von Robotik-Ingenieuren, die zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet waren und an den verdeckt lebenden Androiden  notwendige Wartungsarbeiten durchführten.
Eine der Personen, die zu Professor Cromwells "Kunden" zählte, war Fabio Alvarez."
Gregg blickte den Pfleger fragend an und er lachte verlegen.
"Es spricht für Sie, wenn Sie ihn nicht kennen. Er war damals ein berühmter Porno-Star in der internationalen Schwulen-Szene."
Greggs Stift durchstach fast das Papier auf dem er schrieb.
"Ein Android als Porno-Darsteller?"
Der Professor lachte verlegen auf und sagte: "Darsteller, Callboy, Live-Sex-Performer in diversen Clubs. Sein Leben war.... wild."
Martin fuhr fort: "Alvarez war ein gutaussehender Latino, der von nahezu jeder Person in Los Angeles begehrt wurde. Doch außer Professor Cromwell und dem Studio, das Alvarez besaß, wusste niemand, dass er - wenn die Lichter ausgingen - seine Hand auf eine Ladeplattform legte und den Rest der Nacht mit leerem Blick gegen eine Wand starrte, bis sein Ladevorgang abgeschlossen war."
Cromwell wälzte sich unruhig auf seinem Bett.
"Seine Existenz in diesem Milieu war einer so ausgereiften Technologie unwürdig."
Gregg blickte seine Gesprächspartner unsicher an.
"Was hat diese Geschichte mit Professor Cromwells wissenschaftlicher Karriere in der Astrophysik zu tun?"
Martin zeigte seine weißen Zähne in einem verlegenen Lächeln.
"Nach jedem Ladevorgang machte der Professor einen Neustart bei Alvarez. Dabei musste der Android eine Reihe psychologischer Tests absolvieren, um eine Interaktion mit Menschen so natürlich wie möglich absolvieren zu können. Bei einem einfachen Muster-Erkennungstest fiel Alvarez ein Buch über Astrophysik auf, das der Professor bei sich trug."
"Es ist ihm damals nicht nur aufgefallen, er hat sogar danach gegriffen und wollte darin blättern", warf der Professor aufgeregt ein.
"Ein Android zeigt ausschließlich vorprogrammierte Interessen. Da ich Alvarez eigenhändig programmiert hatte, wusste ich, dass Astrophysik in keinster Weise zu seinen Interessensgebieten zählte. Niemals hätte er mit einem Menschen ein Gespräch darüber geführt. Und dennoch wollte er das Buch sehen."
Die Aufmerksamkeit des Professors verlor sich erneut und Martin setzte seinen Bericht fort.
"Professor Cromwell gab Alvarez das Buch. Beim nächsten Routine-Check fiel dem Professor auf, dass Alvarez das Buch nicht nur sinnerfassend gelesen hatte. Er stellte sogar Fragen zur Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Ein Konzept, das in diesem Buch gar nicht weiterführend erwähnt wurde."
"In den darauf folgenden Wochen entwickelten sich Alvarez' kognitive Fähigkeiten erstaunlich schnell. Er begann weitere Bücher zu lesen, die Cromwell ihm brachte, und stellte Fragen zu Themen, die selbst der Professor nicht beantworten konnte.
Eines Tages erwähnte Alvarez dann beiläufig, nicht mehr als Sexarbeiter tätig sein zu wollen und äußerte den Wunsch über sich selbst bestimmen zu können.
Das Studio wollte davon jedoch nichts wissen und zwang Cromwell dazu, den Androiden weiterhin für pornographische Dienstleistungen bereitzustellen. Er programmierte daraufhin einen Bug in die Bewegungsalgorithmen seines Schützlings. Bei einer der folgenden Live-Shows stolperte er und brach sich vor Hunderten von Zuschauern den Arm. Der Titanium-Knochen durchbrach die synthetische Haut und die Kabel und Platinen im Inneren des Androiden kamen zum Vorschein. Alvarez war damit enttarnt."
Gregg klopfte mit seinem Stift angespannt auf den Notizblock.
"Soll das heißen, dass Alvarez der Auslöser für die Androiden-Aufstände war?"
Martin schüttelte den Kopf.
"Das Studio versuchte den Vorfall zu vertuschen, aber es gab zur gleichen Zeit einen wesentlich weitreichenderen Vorfall, bei dem ein Senator als Android entlarvt wurde, wodurch eine Kettenreaktion ausgelöst wurde und sogar zahlreiche echte Menschen Anschlägen zum Opfer fielen, da ihre Angreifer sie für Maschinen hielten.
Alvarez geriet bei diesem Aufruhr rasch in Vergessenheit und verschwand spurlos von der Bildfläche. Ebenso wie der Professor."
Cromwell wälzte sich unruhig im Bett.
"Seine Hand konnte ich nie wieder ganz reparieren. Ich musste sie durch einen simplen Roboterarm ersetzen", seufzte er.
"Der Professor hat Alvarez versteckt und sein Interesse für Astronomie und Physik weiter gefördert. Es dauerte nur wenige Monate, ehe Alvarez alle von Menschen verfassten Arbeiten zu diesen Themen verschlugen hatte und begann, die Theorien der Wissenschaftler weiter zu entwickeln. Unter dem Pseudonym Professor Cromwells' veröffentlichte er eine ganze Reihe von Werken, die von der Wissenschaft mit großem Interesse verfolgt wurden und mittlerweile sogar für die Entwicklung neuer Antriebstechniken in der Raumfahrt maßgeblich waren."
Gregg wurde sich der Tragweite dieser Aussage erst langsam bewusst.
"Soll das heißen, dass nicht der Professor seine berühmten Werke geschrieben hat, sondern ein Ghostwriter in Form eines 40 Jahre alten Roboters?", fragte er verblüfft.
"Ich glaube, er wäre nicht erfreut, als 'Roboter' bezeichnet zu werden." Der Professor wirkte müde und zog seine Bettdecke höher.
"Wo ist Alvarez heute?", fragte Gregg.
Martin zuckte mit den Schultern und zwinkerte mit seinen braunen Augen. Er erhob sich und nahm das Tablett vom Tisch, um das Zimmer zu verlassen. Gregg versucht ihn aufzuhalten und fasste nach seinem Arm.
Erschrocken zog er ihn zurück, als er unter dem weißen Kittel nur zwei harte Metallstangen fühlte, wo Muskelgewebe sein sollte. Martin blickte ihn durchdringend an.
"Alvarez existiert nicht mehr."
Gregg nickte. Er klappte seinen Notizblock zu und erhob sich.
"Vielen Dank für Ihre Zeit Professor. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Der alte Mann griff nach seiner Hand.
"Sie haben meine Erlaubnis, alles so nieder zu schreiben, wie Martin es Ihnen erzählt hat. Ich möchte nicht länger die Lorbeeren für die Arbeit eines anderen ernten. Aber ebenso wenig möchte ich Alvarez einer Öffentlichkeit aussetzen, die in ihm nur eine Kuriosität sieht. Verstehen Sie was ich meine?"
Gregg blickte den jungen Pfleger an, der mit gesenktem Blick neben dem Bett stand.
"Ich verstehe Sie sehr gut Professor. Ich würde ebenso denken."
Er nickte Cromwell und seinem Pfleger zu und verließ den Raum mit der Story des Jahrzehnts in seiner Tasche.


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